Die digitale Transformation beschäftigt in Deutschland international agierende Konzerne und Großunternehmen wie auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Der sogenannte „German Mittelstand“ wird hierbei nicht nur anhand seiner Größenkriterien abgegrenzt: Laut Definition des Ifm Bonn gehören ihm ebenso eigentümer- und familiengeführte Unternehmen unabhängig von Umsatz und Beschäftigtenzahl an. Studien bescheinigen diesen Unternehmen deutlichen Nachholbedarf, wenn sie nicht den Anschluss verlieren wollen, hinterfragen jedoch kaum die Vielfalt und Gründe ihrer Digitalisierungsstrategien. Da sich über 90% der Unternehmen in Deutschland in Eigentümer- bzw. Familienhand (>70%) befinden und sich durch ihre langfristige Orientierung auszeichnen, widmet sich der Beitrag jenen Treibern und Hemmnissen, welche den technologischen Wandel in inhaber-bzw. familiengeführten Unternehmen beeinflussen.
„Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.“ (Charles Darwin)
Im Mai 2022 veröffentlichten das WIFU Institut der Universität Witten/Herdecke zusammen mit dem Forschungszentrum Mittelstand (FZM) der Universität Trier ihre Studie zur Digitalisierung in deutschen Familienunternehmen des verarbeitenden Gewerbes. Die Befunde zeigen, dass Familienunternehmen (FU) des verarbeitenden Gewerbes insgesamt geringer digitalisiert sind als Nicht-Familienunternehmen. Der Rückstand der FU betrifft sämtliche Unternehmensbereiche von Einkauf, Personal, Verwaltung, Marketing und Kundenservice bis hin zu Logistik und F&E. Lediglich im Bereich der Produktion weisen FU einen höheren Digitalisierungsgrad als Nicht-FU auf. Insbesondere mangele es in FU an disruptiver Digitalisierung, d.h. veränderte, an den Wandel und die Anforderungen angepasste Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle. Bremsen die Familienunternehmen also die rasante Entwicklung neuer Arbeits- und Lebenswelten aus?
Digitale Transformation und ihre Stadien
Digitale Transformation wird als „grundlegender Wandel der gesamten Unternehmenswelt durch die Etablierung neuer Technologien“ verstanden (Rasch & Koß 2015). Ihr zugrundeliegender Veränderungsprozess wird in der Wissenschaft als aktiv gestaltbar und ausführbar angenommen (Vgl. Schneckenberg et al. 2021, Berghaus & Back 2016). Seine Umsetzung erstreckt sich von der Nutzung digitaler Kommunikationskanäle und Medien über den Einsatz künstlicher Intelligenz (AI) in administrativen Unternehmensprozessen bis hin zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle. Die englischsprachige wissenschaftliche Literatur verwendet daher zur Abbildung des digitalen Reifegrades verschiedene Begrifflichkeiten für den deutschen Einheitsbegriff der Digitalisierung, um die Stadien des Veränderungsprozesses abzugrenzen.
Hierbei bringen die Anpassung und Integration neuer technologischer Anforderungen auch Unsicherheiten in strategischen Entscheidungen mit sich, die inhaber-bzw. familiengeführten Unternehmen zumeist besser gelingen als managergeführten Großunternehmen, denn sie sind gemeinhin für ihre Anpassungsfähigkeit und Flexibilität bekannt.
Die WIFU-Studie zeigt, dass Familienunternehmen mit einem höheren Gesamtdigitalisierungsgrad ihre Profitabilität und ihr Umsatzwachstum höher einschätzen als andere, weniger digitalisierte Familienunternehmen: „Investitionen in die Digitalisierung des Unternehmens, etwa digitalisierte unternehmerische Prozesse, können als wichtige Voraussetzung für den finanziellen Erfolg und das langfristige Bestehen familiengeführter Unternehmen gesehen werden.“ So können nicht nur Kosten reduziert und Umsätze gesteigert, sondern auch unternehmerische Kernkompetenzen weiterentwickelt, neue Absatzkanäle erschlossen und langfristige Wettbewerbsvorteile geschaffen werden (Zott & Amit 2017). Das Institut geht daher davon aus, dass eine stärkere Digitalisierung die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in Familienunternehmen steigert.
Gleichfalls zeigen Analysen zur Digitalisierung von kleinen und mittleren FU, dass der diskontinuierliche Wandel den Zielen und Werten von FU entgegen zu stehen scheint, da zwar eine relativ hohe Bereitschaft zur digitalen Innovation vorliegt, jedoch relevante technologische Trends nicht rechtzeitig erkannt werden, klare strategische Visionen fehlen, Investitionskapazitäten begrenzt seien und notwendige digitale Fähigkeiten und Fertigkeiten fehlen, um den Einsatz digitaler Technologien voranzutreiben (Intes – Family Business Academy by PwC 2021, Überbacher et al. 2020). Zugrundeliegende wissenschaftliche Erkenntnisse sind jedoch insgesamt limitiert und heterogen – sie widersprechen sich teils. Entsprechend lautet auch das Praxis-Resümee der WIFU-Studie: „Während einige Familienunternehmen zunächst nur oberflächliche und unstrukturierte Maßnahmen ergreifen, haben andere ihre traditionellen Strukturen bereits durch radikal neue, digitale Geschäftsmodelle ersetzt“. Mit Blick auf die unterschiedlichen Reifegrade befinden sich FU offenbar in unterschiedlichen Stadien und treiben ihre Veränderungsprozesse in unterschiedlichen Tempi voran. Beeinflusst werden diese Veränderungsprozesse durch das Zusammenspiel von Familiensystem und Unternehmenssystem, welches dazu führt, dass Entscheidungen unter Umständen anders getroffen werden als nur nach rein ökonomischen Entscheidungskriterien. Den uneinheitlichen Befunden der verschiedenen Studien folgend weist diese Unternehmensform somit spezifische Merkmale auf, die die Digitalisierung fördern wie auch behindern können.
Spezifik von Familienunternehmen
Obwohl Familienunternehmen wie auch Nicht-Familienunternehmen die Digitalisierung als Chance zur Optimierung bestehender Geschäftsmodelle betrachten und mit ihr das primäre Ziel der Kostenreduktion verfolgen, liegen den Unternehmensformen generell unterschiedliche Zielstellungen zugrunde: FU verfolgen neben ökonomischen Zielen gleich gewichtet nicht-ökonomische Ziele (sog. Familiness). Neben ihren individuellen sozioemotionalen Werten (SWE) gehören bspw. eine langfristige Ausrichtung, die Bewahrung von Unabhängigkeit, familiärer Werte, der Firmenreputation und gesellschaftlichen Verantwortung sowie der langfristigen und vertrauensvollen Beziehungen zu den relevanten Stakeholdern. Diese nicht-finanziellen Werte sind für FU wertvoll – sie spielen in unternehmerischen Entscheidungen eine bedeutende Rolle und wirken sich entsprechend auch auf Investitionsentscheidungen zur Digitalisierung aus.
Strukturell bedingte Ressourcenbeschränkungen führen darüber hinaus zu einer hohen Orientierung an den eigenen Ressourcen. So wird die Liquidität von FU in der Regel durch einen hohen Anteil an Privatvermögen gestützt. Auch ihr Image basiert auf den persönlichen Werten und Visionen der Inhaber(familie), deren Reputation für Glaubwürdigkeit und Vertrauen sorgt. Ergänzend ergeben sich auch wertvolle immaterielle und soziale Ressourcen aus vertrauensvollen Beziehungen zu zentralen Bezugsgruppen im organisationalen Netzwerk. Folglich zeigt sich in FU ein besonders verantwortungsvoller Umgang mit privaten und organisationalen Ressourcen.
Ihre besondere Struktur und Ausrichtung verschiebt die Konzentration des Veränderungsprozesses auf intra- und interorganisationale Qualitätssteigerung: Um ihre Nischen- und Qualitätsführungsstrategien zu verfolgen, streben FU nicht in erster Linie Wachstumsziele an, sondern konzentrieren ihre Ziele auf die Effizienz von Technologien, Prozessen und Strukturen, die Verbesserung der Zusammenarbeit mit Geschäftspartnern und Kunden sowie eine nachhaltige und flexible Ausrichtung in alten und neuen Märkten. Aus ihren besonderen Merkmalen und Rahmenbedingungen ergeben sich somit spezifische Hemmnisse wie auch Erfolgspotenziale, die es zu berücksichtigen bzw. strategisch zu entwickeln gilt.
Hemmnisse
Risikoaversion, bewusste Differenzierungsstrategien und die Angst vor Reputationsverlust bremsen laut den empirischen Erkenntnissen die Aktivitäten digitaler Transformation in FU. Entsprechend setzen FU digitale Innovationen eher zur Optimierung bestehender Prozesse als zur Veränderung des Geschäftsmodells ein und treiben im IoT-Bereich stärker inkrementelle Innovationen voran als radikale oder explorative Innovationen (Ceipek et al. 2021). Auch pflegen Eigentümerinnen und Eigentümer bevorzugt persönliche Beziehungen und direkte Kommunikationswege zu Kunden, Lieferanten und Mitarbeitern, da diese den Austausch befördern. Entsprechend treiben sie in diesen Bereichen die Digitalisierung und auch die Nutzung digitaler Kanäle in deutlich geringerem Ausmaß voran, weshalb das Familienmanagement hier einen signifikant negativen Einfluss auf den Digitalisierungsgrad im Bereich des Kundenservice nimmt.
Auch Soluk und Kammerlander (2021) identifizierten ein „uneinheitliches Verständnis über den notwendigen Umfang und Inhalt der digitalen Transformation“ sowie den „Widerstand der Mitarbeiter“ als wesentliche Hürden digitaler Transformation. So bringen patriarchalische Rollen und die hierum vernetzten paternalistischen Strukturen häufig ein starkes Traditionsbewusstsein mit sich. Auch verzichten FU „tendenziell auf die Beschäftigung von Expertinnen oder Experten und die Schaffung einer geeigneten technischen Infrastruktur“, vermeiden Risiken und bremsen so technologische und prozessuale Veränderungen aus. Im Entscheidungsprozess können ihre Strukturen somit eine wesentliche Barriere digitaler Transformation darstellen.
Treiber
Die Studie macht andererseits auch deutlich, dass Eigentümer*Innen, unabhängig von der Generation des Familienunternehmens, ein wesentlicher Erfolgstreiber für den Digitalisierungsgrad sein können. Sehen Sie Potenzial, agieren sie als Digitalisierungstreiber, was den FU ein Alleinstellungsmerkmal beschert und Familienunternehmen deutlich von Nicht-Familienunternehmen abhebt.
Dies gilt insbesondere dann, wenn sich ihre Wertschöpfung auf die Nutzung interner Ressourcen konzentriert und ihr Einsatz durch Digitalisierung optimiert werden kann (Heider et al. 2021). Die hervorragenden Marktkenntnisse der Inhaber, ihr Wissen um die spezifischen organisationalen Ressourcen wie auch die ausgeprägten Fähigkeiten der Wissensverwertung und des Risikomanagement reduzieren darüber hinaus ihre Unsicherheit, erhöhen die Risikobereitschaft und wirken sich positiv auf den Digitalisierungsgrad aus. FU profitieren somit von einem „Familienmitglied, welches sich dem Phänomen ´Digitalisierung´ (Hervorh. i. Original) annimmt und dieses durch agile Strukturen, schnelle Entscheidungen und die notwendigen Ressourcen vorantreibt“ (Soluk und Kammerlander 2021). Eine hohe Identifikation allein reicht hierbei jedoch nicht aus: Kompetenzen zur Umsetzung unternehmerischer Transformationsprozesse wie auch spezifischer Digitalisierungskompetenzen sind hilfreich, den Veränderungsprozess systematisch zu kommunizieren und zu steuern.
Die zumeist flachen Hierarchien fördern die Digitalisierung zusätzlich – insbesondere in den Bereichen Verwaltung, Personal und Marketing hebt das WIFU Institut signifikante Unterschiede im Digitalisierungsgrad hervor, die auf agile Strukturen und enge Beziehungen zurückzuführen sind.
Statt zu behindern, begünstigen die vertrauensvollen Beziehungen zu Mitarbeitenden den Veränderungsprozess, indem sie Haltung und Einstellung gegenüber neuen Technologien positiv beeinflussen (Soluk und Kammerlander 2021). Gleichfalls trägt der direkte, persönliche Austausch insbesondere im Produktbereich dazu bei, relevante technologische Trends wie auch qualitative, prozessuale oder personelle Hürden und Chancen zu erfassen bzw. innovative Lösungen zu erarbeiten. Der geringe Formalisierungsgrad der FU stellt somit ein Merkmal dar, welches sich im Rahmen der Digitalisierung als Vorteil erweist.
Der eingangs diagnostizierte Widerstand der Mitarbeiterschaft sollte daher vielmehr als Symptom denn als Ursache verstanden werden. Denn mit dem Widerstand aus der Mitarbeiterschaft erhalten Entscheider erst einmal das wichtige und hilfreiche Feedback zur Prozessoptimierung aus der Innensicht derer, die die Veränderung betrifft.
Gleichfalls trägt der direkte Austausch mit Dienstleistern und Experten zum organisationalen Lernen bei: Statt sich in Digitalisierungsentscheidungen auf externe Experten ohne Innensicht zu verlassen, bilden diese Unternehmen ihre Mitarbeiter zu eigenen Experten weiter. Was Zeit kostet, lohnt sich am Ende: Mehr spezifisches Wissen sorgt dafür, dass Trends wie auch Gefahren schneller erkannt und Anpassungen vorgenommen werden, individuellere Lösungen entwickelt und deutlich weniger vorschnelle Fehlinvestitionen vorgenommen werden, was das Tempo der digitalen Transformation verringert.
Relevanz
Die digitale Transformation stellt nicht nur für FU einen Veränderungsprozess dar, den es mit strategischen Entscheidungen auszurichten und zu steuern gilt. Auch müssen hierfür Rahmenbedingungen geschaffen werden. Mit dem Wissen um die Treiber der Digitalisierung in FU können wirtschaftliche und politische Entscheidungsträger*Innen passende wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen ziehen, um mittelständische Familienunternehmen zielgerichtet bei der Digitalisierung zu unterstützen.
Gleichfalls sind hier die spezifischen Merkmale dieser besonderen Unternehmensform zu beachten: Das strategische Management der FU wie auch die Beratungsunternehmen und umsetzenden Dienstleister unterliegen der Herausforderung, die vorgenannten Rahmenbedingungen und Hemmnisse zu berücksichtigen und die individuellen Erfolgspotenziale zu nutzen, um den Veränderungsprozess zum Erfolg zu führen. Andernfalls entziehen standardisierte Vorgehen diesen Unternehmen die individuellen Chancen und Stärken – sie legen dem Unternehmen Prozesse auf, die nicht zu den eigenen Strukturen und Werten passen, behindern deren Agilität und Leistungsfähigkeit oder scheitern ganz und gar in dem Versuch, ein Kamel durchs Nadelöhr zu pressen.
Die Studienzusammenfassung ist unter folgendem Link abrufbar: https://www.wifu.de/wp-content/uploads/dlm_uploads/WIFU-Studie-2022-Digitalisierung-in-deutschen-Familienunternehmen.pdf.
Halten Sie sich über alle aktuellen Entwicklungen zur digitalen Kommunikation gern über den Newsletter des Mittelstand-Digital Zentrums Ilmenau auf dem Laufenden. Wir freuen uns über Ihr Interesse und stehen gern für Informationsgespräche, Vorträge und Fachdiskussionen zur Verfügung
Ansprechpartner:
Ninette Pett
Modellfabrik Vernetzung
Telefon: 03677/69-5075
E-Mail: pett@kompetenzzentrum-ilmenau.de
Quellen
Berghaus, S.; Back, A. (2016): Gestaltungsbereiche der digitalen Transformation von Unternehmen: Entwicklung, eines Reifegradmodells. In: Die Unternehmung, 70. Jg., Nr. 2, S. 98-123.
Ceipek, R.; Hautz, J.; De Massis, A.; Matzler, K. & Ardito, L. (2021): Digital transformation through exploratory and exploitative internet of things innovations: the impact of family management and technological diversification. In: Journal of Product Innovation Management, Volume 38, Issues 1, pp. 142-165.
Intes – Family Business Academy by PwC (2021): Family Business Survey 2021 – Vertrauen ist gut, Kontrolle übernehmen besser, abrufbar unter: https://t1p.de/30lm7 [Stand: 01.03.2022].
Rasch, M.; Koß, R. (2015): Digital Controlling – Digitale Transformation im Controlling, abrufbar unter: https://t1p.de/k8dl [Stand: 16.01.2021].
Schneckenberg, D.; Benitez, J.; Klos, C.; Velamuri, V. K. & Spieth, P. (2021): Value creation and appropriation of software vendors: A digital innovation model for cloud computing. In: Information & Management, Volume 58, Issue 4, pp. 103-463.
Soluk, J.; Kammerlander, N. (2021): Digital transformation in family-owned Mittelstand firms: A dynamic capabilities perspective. In: European Journal of Information Systems, Volume 30, Issue 6, pp. 676-711.
Soluk, J.; Miroshnychenko, I.; Kammerlander, N. & De Massis, A. (2021): Family influence and digital business model innovation: the enabling role of dynamic capabilities. In: Entrepreneurship Theory and Practice, Volume 45, Issue 4, pp. 867-905.
Verhoef, P. C.; Broekhuizen, T.; Bart, Y.; Bhattacharya, A.; Dong, J. Q.; Fabian, N. & Haenlein, M. (2021): Digital transformation: A multidisciplinary reflection and research agenda. In: Journal of Business Research, Volume 122, pp. 889-901.
Zott, C.; Amit, R. (2017): Business model innovation: How to create value in a digital world. In: GfK Marketing Intelligence Review, Volume 9, Issue 1, pp. 18-23.
Bildquellen
- Abb. 1: WIFU in Anlehnung an Verhoef et al. 2021 (Quelle: WIFU Institut): © WIFU Institut
- Abb. 2: Familienunternehmen und ihre Besonderheiten (Quelle: WIFU Institut): © WIFU Institut